Stottern bei Kindern

Definition

Stottern ist eine Redefluss- oder Sprechablaufstörung, bei der es nicht nur gelegentlich, sondern auffallend häufig zu Unterbrechungen im Redefluss kommt. Ein Stotterer weiß genau, was er sagen will, ist aber im Augenblick des Stotterns unfähig, die für die Umsetzung des sprachlichen Inhalts erforderlichen Artikulationsbewegungen fließend auszuführen. (Natke, 2000)

Stottern ist eine sprechmotorische Redeflussstörung und damit eine zentrale Sprechstörung. Es tritt beim mitteilenden und nicht-kommunikativen Sprechen - unabhängig von dem Willen des Sprechers - im Kindes- und Erwachsenenalter auf und äußert sich symptomatisch in den Bereichen Respiration, Phonation, Artikulation, Sprechablauf und Motorik. (Bigenzahn u. Böhme, 2003)


Abgrenzung

Stottern und entwicklungsübliche Sprechunflüssigkeiten

Es ist zunächst wichtig, Stottern im Kindesalter von normalen, entwicklungsüblichen Sprechunflüssigkeiten abzugrenzen. Neben dem Fehlen von Begleitsymtomatik werden normale Sprechunflüssigkeiten auch durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet:
- Auftretenshäufigkeit von höchstens 10 Sprechunflüssigkeiten pro 100 gesprochenen Wörtern
- Wort- und Silbenwiederholungen bestehen generell nur aus einer Wiederholungseinheit (z.B. Ich-ich, Lam-Lampe)
- Normale Sprechunflüssigkeiten bestehen meist nur aus: Einfügungen (z.B. "hmm" am Satz-/Wortanfang), Verbesserungen (z.B. "do...zu Hause") oder Wortwiederholungen (Du-du oder mein-mein).  Nach dem dritten Lebensjahr sollte darüberhinaus eine Minderung von Silbenwiederholungen zu beobachten sein. (Guitar, 1998)

Im Alter zwischen zirka drei und fünf Jahren sind derartige physiologische oder funktionelle Sprechunflüssigkeiten oft entwicklungsüblich. Nur zirka 20-25% der Kinder, die bis zum 6. Lebensjahr Sprechunflüssigkeiten aufweisen, entwickeln eine Form des chronischen Stotterns (Yairi u. Ambrose, 1999).  Allerdings ist nur schwer vorauszusagen, ob ein Kind unter entwicklungsbedingten Redeflussstörungen leidet oder bereits Anfänge des beginnenden Stotterns entwickelt.  

Im Vergleich zu den oben aufgeführten typischen Redeflussstörungen weist die Entwicklung folgender Symtomatiken oft auf beginnendes Stottern hin: 

- Häufige Wort- und Wortteilwiederholungen ( mehr als 10 Sprechunflüssigkeiten pro 100 gesprochenen Wörtern)

- Angespannte Laut- und Silbenwiederholung

- Längere Pausen innerhalb eines Wortes.

- Längere Dehnungen mit Verspannung im Mund-, Gesichts- und Halsbereich.

Die zunehmende Sprechanstrengung und das häufiger werdende Vermeiden von Sprechsituationen kündigen das Entstehen eines Störungsbewusstsein an, welches die weitere Intensivierung der Kernsymtomatik (siehe "Symptome") begünstigt.

Stottern und Poltern
 
Bei älteren Kindern ist es zudem wichtig, Stottern auch von der Redeflussstörung Poltern abzugrenzen.

Silverman (1996) verweist auf drei Hauptmerkmale, die in der Differenzialdiagnose zwischen Stottern und Poltern besonders zu beachten sind.  Laut Silverman ist anzunehmen, daß es sich bei älteren Kindern und Erwachsenen eher um Poltern als um Stottern handelt, wenn die folgenden drei Verhaltensweisen zu beobachten sind:
- Schnelle Sprechrate (mehr als 115-165 Wörter pro Minute während spontansprachlichen Unterhaltungen, Andrews u. Ingham, 1971)

- Fehlende Begleitsymtomatik aufgrund von abwesendem Störungsbewusstsein

- Verbesserte Sprechflüssigkeit im strukturierten Sprachgebrauch (z.B. vorher erarbeitete Vorträge oder lautes Vorlesen)
 

Prävalenz

- Stottern beginnt überwiegend im Vorschulalter, selten im Grundschulalter und fast nie nach dem 10. Lebensjahr

- bis zu 80% aller Kinder machen während ihrer Sprachentwicklung eine mehr oder weniger lange Zeit des unflüssigen Sprechens durch, wobei im weiteren Verlauf etwa 5% eine anhaltende und verstärkte Symptomatik aufzeigen, die auf einen chronischen Verlauf hinweist

- von den 5% der chronisch stotternden Kinder lernen 4% im späteren Kindes-, Jugendlichen- oder Erwachsenenalter noch das flüssige Sprechen, so dass ca. 1% der Erwachsenenbevölkerung chronische Stotterer bleiben

- Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen (Verhältnis 3:1)

 

Symptome

Die für das Stottern typischen Kernsymtome bestehen aus den folgenden drei Unterbrechungen des Redeflusses:
    - Laut- und Silbenwiederholungen sowie Wiederholungen einsilbiger Wörter (Repetitionen, Iterationen)
    - Lautdehnungen (Prolongationen)
    - ungewöhnliche Pausen zwischen Lauten und Silben eines Wortes (Blockaden)

Bei weiter fortgeschrittenem Stottern, ist darüberhinaus auch Sekundär- oder Begleitsymtomatik zu beobachten.  Diese Verhaltensweisen bestehen aus individuell erlernten Reaktionsmustern auf die auftrettende Kernsymtomatik und stellen einen Versuch des Stotterers dar, die entsprechende Kernsymptomatik zu überwinden. Zu der möglicherweise auftrettenden Begleitsymtomatik gehören unter anderem (nach Glück u. Baumgartner, 2006):
- krampfartige Pressversuche
- mimische Mitbewegungen, z.B. Gesichtsverzerrungen
- grobmotorische Mitbewegungen (Parakinesen) z.B. Fußstampfen, Kopfreißen
- vegetative, angstkorrelierte Symptome, z.B. Schwitzen, Erröten
- fehlender Blickkontakt zum Gesprächspartner
- Vermeindungsverhalten (Avoidances) z.B. das Vermeiden bestimmter Gesprächssituationen oder bestimmter Worte


Zur differenzierten Erfassung der Stottersymptomatik bei Kindern sind Listen mit kritischen Merkmalen zur Unterscheidung von normalen oder funktionellen Sprechunflüssigkeiten und auffälligen bzw. sehr auffälligen symptomatischen Sprechunflüssigkeiten erstellt worden, die auch die mögliche Sekundärsymptomatik einbeziehen.

            
Ursachen

Die Suche nach den variablen Ursachen des Stotterns konzentriert sich vor allem auf das Vorschulalter, da sich in diesem Zeitraum das chronische Stottern entwickelt.

Nach derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntisen, ist keine eindeutige Ursache für das Stottern bekannt.  In den meisten Fällen kann davon ausgegangen werden, daß die Redeflussstörung Stottern durch das Zusammenspiel verschiedener interner und externer Einflüsse entsteht.
Zu den Einflüssen die die Entwicklung des Stotterns auslösen oder begünstigen zählen:

  • Genetik (60% aller stotternden Kinder haben Familienmitglieder die auch Stottern, Stuttering Association of America, 1991-2009)
  • Kindliche Entwicklung (Kinder mit anderen Sprech- oder Sprachstörungen und Kinder die an Entwicklungsverzögerungen leiden, laufen eher Gefahr zu stottern, Stuttering Association of America, 1991-2009)
  • Neurophysiology (Studien zeigen das stotternde Menschen Sprache oft atypisch verarbeiten. Wissenschaftler erwiesen das Sprache oft in der rechten, als in der für Sprachverarbeitung vorgesehenen, linken Hemisphere verarbeitet wird, Bloodstein u. Ratner, 2008)
  • Familienleben (Übertriebene Erwartungshaltungen und ein stetig sehr hecktischer Tagesablauf können die Entwicklung des Stotterns zusätzlich begünstigen, Stuttering Association of America, 1991-2009)


Theoretische Grundlagen

In der Fachwelt gibt es zusätzlich theoretische Modelle, die systematische Erklärungsversuche bezüglich des Auftrettens von entwicklungstypischen Redeflussstörungen als auch der Entstehung des Stottern, im Kindesalter darstellen. Zu den gängisten Modellen zählen die folgenden Konstrukte:

Das Modell der interaktiven Beziehung physiologischer, psycholinguistischer und psychosozialer Variablen (Johannsen, 1990):

Grundlage dieses Modells ist die idiographische (einzelfallorientierte) Betrachtungsweise.
Die Entstehung, Aufrechterhaltung und der Verlauf des chronischen Stotterns wird wesentlich durch disponierende Bedingungen (z.B. Vererbung, frühkindliche Entwicklungsbedingungen), auslösende Bedingungen (Faktoren und Ereignisse, die dem Erstauftreten des Stotterns unmittelbar zeitlich vorangehen oder damit zusammenfallen) und chronifizierende, generalisierende und die Sprechunflüssigkeit stabilisierende Bedingungen beeinflusst.

a) Disponierende Bedingungen
- Stottern als neuromotorische Koordinationsstörung, d.h. fehlerhafte, neuromotorische Koordination im komplexen Planungs- und Ausführungsgeflecht von Atmung, Stimmgebung und Artikulation

- Hemnisphärendifferenz und Stottern. Stottern wird als Folge einer unzureichenden Lateralisation sprachlicher Fähigkeiten angenommen.

- Stottern als Folge einer Wahrnehmungsstörung d.h. fehlerhafte Integration akustischer, taktil-kinästhetischer und proprizeptiver Rückmeldungen bei der Artikulation bzw. bei deren innerer Überwachung

- Genetische Faktoren

 

b) Auslösende und aufrechterhaltende Faktoren

Die Entwicklung des Stotterns aus der Disposition heraus kann nicht durch einen einzelnen Faktor begründet werden. Physiologische, psycholinguistische (sprachliche Kompetenzen) und psychosoziale Faktoren (Eltern, Interaktionsstile, psychische Konstitution, Bewältigungsverhalten) bilden einen individuellen Bedingungshintergrund, die für sich alleine oder in gegenseitiger Beeinflussung wirksam werden.
Dispositionelle Bedingungen mit auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren zusammen führen zu chronischem Stottern.
Eine Autoregulationsstörung (Bloodstein 1995) kann als zusätzliche Erklärung für die Entstehung des chronischen Stotterns im Vorschulalter gesehen werden. Eine Veränderung der Tiefensensibilität im Bereich der Sprechorgane können u.a. zu einer Autoregulationsstörung führen.


Anforderungs- und Kapazitätenmodell (Starkweather & Gottwald, 1990):

Für den normalen neurophysiologisch gesteuerten Sprechvorgang ist ein Gleichgewicht zwischen Anforderung (z.B. Erwartungshaltung der Bezugsperson, Anspruchsniveau des Kindes, Kommunikationsbedingung, intrafamiliärer Interaktionsstil) und Kapazität (emotionale Stabilität, Sprechmototik, kognitive Fähigkeiten, linguistische Fähigkeiten) unbedingt erforderlich. Stottern tritt immer dann auf, wenn Kapazität und Anforderung nicht im Gleichgewicht stehen. Ungleichgewicht kann bei guten Kompetenzen durch überhöhte Anforderungen, und bei normalen Anforderungen durch ungenügende Kompetenzentwicklung eintreten.


Literatur

Andrews, G., & Ingham, R. Stuttering: Considerations in the evaluation of treatment. British Journal of Communication Disorders, Ausgabe 6, Seiten: 129-138, 1971.

Bigenzahn, W. & Böhme, G. Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen. 3. Auflage. Seite 122. Elsevier, Urban & Fischer Verlag: München, 2003.

Bloodstein, O. & Ratner, B.N. A Handbook on Stuttering. 6. Auflage. Seite 153. Thomson, Delmar Learning: Clifton Park, NY, 2008.

Guitar, B. Stuttering: An Integrated Approach to Its Nature and Treatment. 2. Edition. Lippincott, Williams & Wilkins: Baltimore, ML, 1998.

Johannsen, H.S. Stottern bei Kindern. In Grohnfeldt, M. Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie in 5 Bd. 2. Auflage. In Band 2: Erscheinungsformen und Störungsbilder. Seiten: 150-159. Kohlhammer,W. Verlag GmbH: Stuttgart, 2003.

Natke, U. Definition des Stotterns. In Grohnfeldt, M. Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie in 5 Bd. 2. Auflage. In Band 2: Erscheinungsformen und Störungsbilder. Seite: 151. Kohlhammer,W. Verlag GmbH: Stuttgart, 2003.

Silverman, F.H. Stuttering and other Fluency Disorders, 2. Edition. Allyn & Bacon: Needham Heights, MA, 1996.

Starkweather, C.W. & Gottwald, S.R. The demands and capacities model II: Clinical application. Journal of Fluency Disorders. Ausgabe: 15. Seiten: 143-157, 1990.

The Stuttering Foundation of America. Stuttering Facts and Information. Eingesehen: 13.März 2009, auf The Stuttering Foundation of America - Offizielle Webseite: www.stutteringhelp.org, 1991 - 2009.

Yairi, E. & Ambrose, N.G. Early Childhood Stuttering I: Persistency and Recovery Rates.Journal of Speech Language and Hearing Research,  Ausgabe 42, Seiten: 1097 - 1112, 1999.

 

Weblinks

Deutsche Webseiten:
Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe e.V.: www.bvss.de

 

Englische Webseiten:

Stuttering Foundation of America: www.stutteringhelp.org

National Stuttering Association: www.nsastutter.org

American Speech Language and Hearing Association: www.asha.org