Sprachverständnisstörungen
Definition
Die Sprachverständnisstörung bzw. rezeptive Sprachstörung ist ein Teil der umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache (Sprachentwicklungsstörungen). Bei einer expressiven Sprachstörung oder einer Artikulationsstörung ist das Sprachverständnis normalerweise altersgemäß, bei der rezeptiven nicht.
Die rezeptive Sprachstörung/Sprachverständnisstörung ist eine Störung, "bei der das Sprachverständnis des Kindes unterhalb des seinem Intelligenzalter angemessenen Niveaus liegt" (Amorosa/Noterdaeme). D.h. das Kind kann gesprochene Sprache nicht altersentsprechend entschlüsseln. Unter Sprachverständnis versteht man die Fähigkeit, die Bedeutung einer Äußerung nur aufgrund der Wortbedeutungen und der grammatikalischen Regeln zu verstehen, ohne dass man die Situation dabei mit einbezieht.
Häufig wird eine rezeptive Sprachstörung von einer expressiven bzw. einer Artikulationsstörung begleitet.
Definitionskriterien
Sprachverständnisstörungen gibt es als Teil einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, im Rahmen einer Intelligenzminderung und isoliert als umschriebene Entwicklungsstörung.
Eine umschriebene Enticklungsstörung liegt vor wenn,
- der Grad der Entwicklungsstörung der rezeptiven Sprache außerhalb der Normvarianz liegt,
- die Kriterien für eine tiefgreifende Entwicklungsstörung nicht erfüllt werden,
- die sprachliche Fähigkeit abnorm ist,
- eine Intelligenzminderung nicht ausschlaggebend dafür ist.
Die Forschung fordert zudem noch:
- dass das mit einem standardidierten Test erfasste Sprachverständnis unterhalb der Grenze von 2 Standardabweichungen für das Alter des Kindes liegt
- und mindestens eine Standardabweichung unter dem nonverbalem IQ.
Problematik der Definitionskriterien:
- deutschsprachige Tests sind unzureichend normiert.
- die klinische Diagnose eines Sprachtherapeuten stimmt oft nicht mit den Ergebnissen aus einem Sprachtest überein.
- auch bei Kindern mit Intelligenzminderung kann eine rezeptive Sprachstörung auftreten, nämlich dann wenn die Störung deutlich vom allgemeinen Niveau der kognitiven Fähigkeiten (nonverbale Fähigkeiten) abweicht.
Symptome
Das nicht altersgemäße Verstehen von Sprache ist schwer zu erkennen, es lassen sich beim Beobachten jedoch mehrere Anzeichen feststellen:
- Gar keine oder vorschnelle Reaktion auf Anweisungen
- Auditive Unaufmerksamkeit
- Völlige Interessenlosigkeit (z.B. beim Vorlesen)
- Ungenaue oder gar keine Reaktion auf Fragen
- Später Sprachbeginn
- Jargonsprache (längere Äußerungen mit guter Intonation, die aber nicht zu verstehen sind)
- Echolalie (Wiederholung von Äußerungen oder Teilen von Äußerungen)
- Floskelhafte Sätze
- Geringe Aufmerksamkeit für Sprache (z.B. geringe Reaktion auf Sprache; kein Interesse an Vorlesen, aber gerne Bilderbücher…)
- Häufiges „Ja“ auf Fragen
- Missverständnisse (z.B. weil noch der Strategie „was zuerst gesagt wird, passiert zuerst" (Äußerungsfolgestrategie) gefolgt wird)
- Artikulationsstörungen (zusätzlich zum „Hauptproblem“):
* Wortfehlbildung
* Wortentstellung
* Auslassung
* Dysgrammatismus
* geringer Wortschatz
* Wortfindungsschwäche
Kinder mit Sprachverständnisstörungen beobachten ihre Mitmenschen sehr genau, um ihr Verhalten dann nachzuahmen.
Diese Kinder haben nie gelernt, dass man Sprache genau verstehen kann. Sie entwickeln aber dennoch ein Störungsbewusstsein, weil sie merken, dass bei ihnen etwas anders ist, als bei anderen Kindern. Meistens erkennen sie die genaue Problematik aber nicht und halten sich einfach für dumm.
Komorbide Störungen:
Bei mehr als 50% der Kinder treten neben den Störungen im sprachlichen Bereich auch andere Teilleistungsstörungen auf.
Am häufigsten sind dabei:
- Störungen der Motorik (insbesondere der Feinmotorik)
- Psychiatrische Störungen (z.B. dem frühkindlichen Autismus ähnliches Verhalten oder Störungen der Aufmerksamkeit)
Sekundärstörungen:
- Lese-/Rechtschreibschwächen z.B. Wortentstellung; Auslassung/Verwechselung von Wortenden oder Konsonantenhäufungen; verwechseln von Vokalen und Konsonanten)
Tertiärstörungen:
- Ablenkbarkeit
- Unkonzentriertheit
- Unaufmerksamkeit
- Undiszipliniertheit
- Aggressivität
Epidemiologie
- Anteil der rezeptiven Störungen an der Gesamtgruppe der umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen: 30 - 40 %
- Geschlechterverhältnis Jungen/ Mädchen : 2/1
Ursachen
Ursachen sind nicht eindeutig geklärt, deshalb wird in die folgenden unterschieden.
- Genetische Faktoren
- Biologische Faktoren
- Psychosoziale Risiken
Genetische Faktoren
- unterschiedlich starke genetische Dispositionen innerhalb der Familie
Methode zur Analyse: Monozygote (eineiige; genetisch identische) und dizygote (zweieiige) Zwillingspaare wurden miteinander verglichen. Bei monozygoten Zwillingen wurde eine höhere Konkordanzrate (Übereinstimmung) für Sprachstörungen festgestellt.
Fazit: Genetische Störungen spielen eine wichtige Rolle, aber das genaues Wirken (welches Gen der Auslöser ist) ist noch nicht geklärt!
Biologische Faktoren
- Belastung während der Schwangerschaft (Pränatale Faktoren: Fehlgeburten, Klinikaufenthalt, Präeklampsie, Blutung, Rauchen, Alkohol, Drogenkonsum, Infektionen, schlechter allgemeiner Gesundheitszustand der Mutter)
- Belastung bei der Geburt (Perinatale Faktoren: verkürzte Schwangerschaftsdauer, niedriges Geburtsgewicht, Abnorme Lage bei der Geburt, Komplikationen bei der Entbindung, abnorme Dauer der Geburt)
- Belastung nach der Geburt (postnatal: niedrige Apgar-Werte, Aufnahme auf der Neugeborenen-Intensivstation, Sepsis, Ph, Laktat, Krämpfe)
- Frühgeburt - uneinheitliche Studien; niedriges Geburtsgewicht und Verzögerungen in der Sprachentwicklung korrelieren.
Dennoch müssen zwei Aspekte berücksichtigt werden:
* untersuchte Kinder waren häufig schon neurologisch bzw. kognitiv vorgeschädigt
* bei gesunden Kindern zeigte sich manchmal keine signifikante Korrelation zwischen Geburtsgewicht und Sprachentwicklungsstörung
- Nikotin und Alkohol - nachteiliger Einfluss auf untersuchten Parameter, aber wieder Berücksichtigung der zwei Aspekte (siehe oben); es gibt außerdem Zusammenhänge mit dem Bildungsstand der Eltern.
- Stillen - Kinder die min. 9 Monate gestillt wurden, haben ein geringeres Risiko für Sprachentwicklungsstörungen, aber es gibt keinen Zusammenhang mit dem Bildungsstand der Mutter.
Psychosoziale Risiken
Ausbildungsstatus und psychischer Gesundheitsstatus der Eltern sind die wichtigsten Parameter!
- Niedriges Bildungsniveau der Eltern
- Schlechte Wohnsituation
- Psychiatrische Erkrankung der Eltern
- Heimerziehung/Delinquenz der Eltern
- Konflikt in der elterlichen Erziehung
- Frühe Elternschaft
- Unvollständige Familie
- Nicht erwünschte Schwangerschaft
- Fehlendes soziales Netz
- Chronische Probleme
- Fehlende Coping-Strategien
Weitere psychosoziale Risiken sind die Folge in der Geschwisterreihe (Nesthäckchen eher betroffen), die Anzahl der Geschwister und der sozioökonomische Status
Zusammenhang zwischen Niveau der elterlichen Sprache und Kommunikationsfähigkeiten und dem Niveau der kindlichen Sprachentwicklung.
Fazit: Psychosoziale Faktoren hängen eng mit den biologischen und den genetischen Faktoren zusammen!
Theoretische Grundlagen
Sprachverständnisstrategien im Erwerbsverlauf
Schlüsselwortstrategie (ab 15 Monate)
- Kind kann verschiedene semantische Einheiten (Schlüsselwörter) erkennen und in Beziehung setzen
- Verarbeitung gemäß seinen kognitiven und kommunikativen Kompetenzen
- noch keine syntaktische Strukturen
Pragmatische Strategie (2 Jahre)
- Verstehen von einfachen Satzen
- Mit Hilfe der Pragmatischen Strategie (Erfahrung, Umweltwissen, Logik)
Wortreihenfolgestrategie (3;6 Jahre)
- Kind kann erfahrungswidrige Sätze verstehen, wenn Subjekt-Verb-Objekt-Stellung einfach ist
- Passivsätze können noch nicht entschlüsselt werden
Grammatische Strategie (5/6 Jahre)
- Kind kann grammatische Stratiegie beim Verstehen von Hauptsätzen verfolgen
- Entdeckt linguistische Gesetzmäßigkeiten
- Kann reversible Passivsätze entschlüssen
Äußerungsfolgestrategie (bis ca. 6 Jahre)
- bis zum 6.LJ geht das Kind davon aus, dass die Reihenfolge der Äußerungen auch der Reihenfolge des zeitlichen Geschehens entspricht
Ereignisfolgestrategie (ab ca. 6 Jahre)
- Kind bestimmt jetzt die Reihenfolge der Ereignisse nach grammatikalisch oder lexikalisch codierter Reihenfolge
- Kann Handlung richtig einordnen, auch wenn sie sprachlich in anderer Reihenfolge dargestellt ist
Literatur
Amorosa, H. & Noterdaeme, M. (2003). Rezeptive Sprachstörungen. Göttingen [u.a.]: Hogrefe, Verl. für Psychologie