Autor: Inga Marlen Bäte; stud. paed.; Leibniz Universität Hannover

Myofunktionelle Störungen

Intervention

Um die MFS patientengerecht behandeln zu können, sind unterschiedliche Therapieelemente notwendig. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass nicht jede Therapieform für jeden Patienten gleichermaßen geeignet ist. Daher ist die genaue Diagnose des Störungsbilds entscheidend für die anzuwendende Therapieform (vgl. Campiche Weber 2006, S. 70).
Weiterhin ist auch die Motivation des Betroffenen für eine erfolgreiche Therapie entscheidend. Insbesondere bei Kindern ist es wichtig, diesen den Grund und die Ziele der Myofunktionellen Therapie (MFT) zu erklären und ihnen neue Therapieschritte verständlich zu machen. Auch aufkommende Fragen sollten umfänglich beantwortet werden, um das Kind zur Mitarbeit zu motivieren (vgl. Kittel 2014, S. 58).
Das Ziel der MFT besteht einerseits in der Verbesserung der Ruhelage der Zunge sowie Korrektur des falschen Schluckablaufes und der damit häufig verbundenen gestörten Muskelfunktionen und andererseits in der Verbesserung der Ganzkörperproblematik. Dazu gehört die Körperhaltung und Körpersymmetrie, die Augen-Hand-Koordination, der Blickkontakt, der Händedruck, die Konzentration und die Zwerchfellfunktion (vgl. Kittel 2014, S. 58).
Erstmalig wurden Bestandteile der heutigen MFT bereits Anfang des 20. Jahrhunderts von Kieferorthopäden in den USA angewandt (vgl. Clausnitzer 2004 S. 19). Im deutschsprachigen Raum erlangte die Therapieform insbesondere durch den Sprachpathologen Daniel Garliner Bekanntheit und fand Anwendung in der Phoniatrie, Logopädie, Zahnheilkunde und Kieferorthopädie (vgl. Bigenzahn 2003, S. 42). Bis heute wurde die klassischen Therapiekonzepte der  MFT in verschiedenen Formen modifiziert und erweitert (vgl. Bigenzahn 2003, S. 42).

 

Konzepte

Aufgrund des komplexen Störungsbildes wurden im Zeitablauf unterschiedlichste Therapiekonzepte entwickelt. Exemplarisch sollen an dieser Stelle einige Therapieformen vorgestellt werden, die im deutschsprachigen Raum häufig zur Anwendung kommen.

 

Myofunktionelle Therapie nach Anita M. Kittel

Das Therapiekonzept von Anita M. Kittel stellt eine Modifikation des amerikanischen Ansatzes von Daniel Garliner dar, welcher den Begriff "Myofunktionelle Therapie" prägte und diese insbesondere zur Korrektur von falschen Schluckgewohnheiten und falscher Muskeltätigkeit entwickelte (vgl. Garliner 1982, S. 142). Kittels Therapieform unterscheidet sich im Wesentlichen dadurch, dass es im Gegensatz zu den Ausführungen von Garliner nicht direkt am Therapieziel, dem Schlucken, sondern zuerst am Aufbau von myofunktionellen Grundlagen ansetzt (vgl. Kittel 2014, S. 9). Entscheidend an diesem Therapiekonzept ist damit nicht nur das Training im orofazialen Bereich, sondern vielmehr auch der ganzkörperliche Ansatz (vgl. Kittel 2014, S. 11). Das Konzept besteht aus verschiedenen Bausteinen, die zwingend hierarchisch aufeinander aufbauen sollten (vgl. Kittel 2014, S. 59). Beginnen sollten die Therapiesitzungen nach Kittel mit sogenannten Ruheübungen, bei denen die Zunge in eine Stellung gebracht wird und zumindest kurzzeitig dort gehalten werden soll (vgl. Kittel 2014, S. 60). Ebenfalls ab der ersten Therapiesitzung beginnen die Muskelübungen, bei denen Zungenmuskel- Lippenmuskel und Ansaugübungen in dieser Reihenfolge trainiert werden (vgl. Kittel 2014, S. 60).  Erst hieran anschließend werden die nach Garliner angeregten Schluckübungen durchgeführt, welche in der Automatisierungsphase gefestigt werden (vgl. Kittel 2014, S. 60f.). Parallel zu den verschiedenen Übungen im orofazialen Bereich sollen nach Kittel Ganzkörperübungen durchgeführt werden. Dazu gehören Wahrnehmungs- Haltungs- und Koordinationsübungen zur Verbesserung des Gleichgewichts sowie Übungen zur Stärkung der Bauch- und Rückenmuskulatur, der Nasenatmung und der Zwerchfellfunktion (vgl. Kittel 2014, S. 61ff.).

 

Die Neurofunktionellen Reorganisation (NRO)

Die NRO wurde von der Sprachtherapeutin Beatrice A. Padovan entwickelt. Nach diesem Ansatz sollen diejenigen Mängel und Versäumnisse, die im Verlaufe der Entwicklung und der Neurologischen Organisation aus unterschiedlichen Ursachen auftraten, ausgeglichen werden (vgl. Liem et al. 2010, S. 587). Zu diesem Zweck werden sämtliche Wahrnehmungs- und Bewegungskompetenzen, die bei einer optimalen Entwicklung und Reifung einhergehen wiederherstellt bzw. neu geordnet (vgl. Girmes & Treuenfels 2014, S. 15). Dazu gehören das Rollen, Kriechen, Robben, Krabeln, bis hin zum aufrechten Gang sowie das Atmen, Saugen, Schlucken, Beißen, Kauen bis hin zur gesprochenen Sprache (vgl. Liem et al. 2010, S. 587). Ziel ist es den Patienten und Patientinnen die Funktionen zu vermitteln, die diese bisher nicht oder nicht korrekt erlernt haben (vgl. Liem et al. 2010, S. 587).

 

Die orofaziale Regulationstherapie (ORT)

In den 1970er Jahren entwickelte der argentinische Arzt Dr. Rodolfo Castillo Morales die ursprünglich für Kinder mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte konzipierte orofaziale Regulationstherapie (ORT) mit dem Ziel normale oder zumindest annähernd normale Bewegungsabläufe anzubahnen (vgl. Caspers 2008, S. 141). Ebenso wie Kittel schließt auch Morales in seiner Therapieform den gesamten Körper mit ein (vgl. Morales 1991, S. 19). Grundlage der Behandlung ist nach Morales eine geeignete Kopf- und Körperhaltungskontrolle (vgl. Morales 1991, S. 125). Daher beginnt jede Therapiestunde mit der Tonusregulierung, die den Schwerpunkt des Konzeptes darstellt. Wichtiger Bestandteil des Konzeptes ist auch die sensorische Stimulation durch Berührung, Streichen, Zug, Druck und Vibration der mimischen Muskulatur sowie der äußeren Mundmuskulatur und der Zungenmuskulatur (vgl. Bigenzahn 2003, S. 54). Dies kann beispielsweise durch Anregung bestimmter motorischer Punkte im Gesicht oder das "Tupfen" von der Mitte der Zungenspitze ausgehend nach hinten erfolgen. Durch diese Maßnahmen kann sowohl an der Oberflächen- und Tiefensensibilität sowie an den motorischen Fähigkeiten gearbeitet werden (vgl. Prosiegel et al. 2010, S.121). Die ORT eignet sich für Betroffene mit verschiedensten Einschränkungen, wie etwa einem hypotonen Muskeltonus, Wahrnehmungsstörungen, Paresen, Erkrankungen im neuromuskulären Bereich, Zustand nach Schädelhirntrauma, Schlaganfall und Koma sowie Fehlbildungen im orofazialen Bereich (vgl. Prosiegel et al. 2010, S.121). Die Therapieform kommt bereits im Säuglingsalter zum Einsatz, findet aber auch bei Kindern und Erwachsenen mit unterschiedlichen Störungsbildern Anwendung (vgl. Bigenzahn 2003, S. 54). Aufgrund der komplexen und speziellen Behandlungsmuster sollte die Therapie nur von ausgebildeten Spezialisten durchgeführt werden. Kritisch anzumerken ist, dass die Wirksamkeit des Castillo-Morales-Konzeptes bislang noch nicht in einer geplanten, systematischen Studie nachgewiesen wurde (vgl. Neumann & Meinusch 2013, S. 15).

 

Heidelberger Gruppenkonzept für MFT (GRUMS)

Barbara Lleras und Lisa Müller entwickelten in den 1990er Jahren das Heidelberger Gruppenkonzept für Myofunktionelle Störungen. Im Gegensatz zu den klassischen Myofunktionellen Therapiekonzepten verzichten Lleras und Müller bei Kindern ab dem 4. Lebensjahr auf ein direktes Schlucktraining (vgl. Bigenzahn 2003, S. 59). Anstoß zur Entwicklung der Therapieform gaben insbesondere Klagen und Beschwerden von Logopäden und Logopädinnen und Patienten und Patientinnen bezüglich der rigiden Schluckübungen (vgl. Bigenzahn 2003, S. 59).  
Entscheidend für die erfolgreiche Therapie ist bei diesem Ansatz die Motivation und Begeisterungsfähigkeit des Kindes. Aus diesem Grund liegt ein besonderer Schwerpunkt auf einer praxisorientierten und spielerischen Herangehensweise. Das Kind soll Spaß haben und die therapeutische Behandlung gar nicht bewusst bemerken (vgl. Bigenzahn 2003, S. 59). Weitere Behandlungsschwerpunkte bestehen in der Förderung und Stabilisierung des Sozialverhaltens, der Verbesserung der oralen Wahrnehmung und Artikulation, der Regulierung von Haltung, Grobmotorik und Koordination sowie der Sprachförderung (vgl. Bigenzahn 2003, S. 59). Wie bei den vorangegangenen Konzepten wird auch bei GRUMS ein ganzkörperliches Training vollzogen.

 

Literatur

Bigenzahn, W. (2003). Orofaziale Dysfunktionen im Kindesalter. Stuttgart: Georg Thieme Verlag.

Campiche Weber, M. (2006). Therapie der orofazialen Dysfunktionen. In Böhme, G. (Hrsg.), Sprach-, Sprech-, Stimm-, und Schluckstörungen. Band 2: Therapie (S. 67-    80). München: Urban & Fischer Verlag.

Caspers, K. (2008). Das andere Lächeln- Babys mit Lippen- Kiefer- Gaumenspalte, Germering: W. Zuckerschwerdt Verlag GmbH.

Clausnitzer, V. (2004). Orofaziale Muskelfunktionstherapie (OMF). Ein     myofunktionelles Übungsbuch. Dortmund: verlag modernes lernen, Borgmann KG.

Garliner, D. (1982). Myofunktionelle Therapie in der Praxis. Gestörtes Schluckverhalten, gestörte Gesichtsmuskulatur und die Folgen - Diagnose, Planung und Durchführung der Behandlung. München: Verlag Medizinisches Schriftum.

Girmes, R. & von Treuenfels, H. (2014). Denkübungen. In: Girmes, R., Geschke, S.M.,     Ostermeyer, S.P. & Shkonda, A. (Hrsg.), Den spezialisierten anderen Verstehen. Vom Wert transdisziplinärer Begegnungen (S. 13-27). Münster: Waxmann Verlag GmbH.

Kittel, A. (2014). Myofunktionelle Therapie. Idstein: Schulz-Kirchner Verlag GmbH.

Liem, T., Schleupen,A., Altmeyer, P. & Zweedijk, R. (2010). Osteopathische Behandlung von Kindern. Stuttgart: Karl F. Hauf Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG.

Morales, C.R. (1991). Die Orofaziale Regulationstherapie. München: Richard Pflaum     Verlag GmbH & Co. KG.

Neumann, S. & Meinusch, M. (2013). Effektivität Sprachtherapeutischer Konzepte bei LKGS-Fehlbildung. In: Mitsprache 2/2013, S. 5-25.

Prosiegel, M. & Weber, S. (2010). Dysphagie: Diagnostik und Therapie. Berlin, Heidelberg: Springer Verlag.