Entwicklungsproximale Sprachtherapie nach Dannenbauer 1999

•  Ausgangslage: dysgrammatische Kinder, die unter der erschwerenden Bedingung einer eingeschränkten Verarbeitungskapazität das System der Muttersprache lernen müssen

• Entwicklungsproximale Sprachtherapie: orientiert sich eng an den Prozessen und Phasen des natürlichen Spracherwerbs --> Unterschied: bestimmte Einflussfaktoren werden manipuliert und optimiert, um so trotz eingeschränkter Ressourcen einen effektiven Spracherwerb zu ermöglichen

• „Inszenierter Spracherwerb“: in der Therapie werden dem Kind bestimmte sprachliche Funktionen systematisch und in höherer Frequenz dargeboten, als es im natürlichen Spracherwerb der Fall ist

• Grundlagen für eine entwicklungsproximale Sprachtherapie: tragfähige Beziehung zwischen Kind und Therapeuten, koordinierte Aufmerksamkeitsausrichtung --> (sprachliches) Verhalten der Therapeutin muss für das Kind attraktiv und nachahmenswert sein --> „Transportsystem“ für spätere Lehr- Situationen während der Therapie

• Therapie: orientiert sich immer an der „Zone der nächsten Entwicklung“--> Orientierung an der Reihenfolge des natürlichen Spracherwerbs; erforderliche Lerninhalte werden in motivierende Sach- und Handlungskontexte eingebettet (sollen den Interessen des Kindes entsprechen) --> Techniken des Modellierens


Techniken des Modellierens


•  Vorangehende Sprachmodelle  (Therapeutin bietet dem Kind sprachliche Strukturen an): Präsentation, Parallelsprechen, Linguistische Markierungen, FA- Fragen (forced alternative)

•  Nachfolgende Sprachmodelle  (Therapeutin reagiert auf kindliche Äußerungen und modelliert sie): Expansion, Umformung, korrektives Feedback, Modellierte Selbstkorrektur, Extension

 

Spielbeispiele für die Zielstruktur: AUXILIARE

 

Spiel mit Handpuppen: „Kasperl hat Geburtstag“

-    Handpuppenspiel mit dem Thema „Kasperl hat heute Geburtstag“: Strukturierung möglich mit dem Ziel, Aufmerksamkeit des Kinder speziell auf die Perfektform zu lenken

-    Vier Puppen kommen der Reihe nach und begrüßen den Kasperl: „Ich hab gehört, du hast heute Geburtstag. Ich hab dir etwas mitgebracht.“

-    Jeder Gast kündigt den nächsten an: „Ich habe auch ... eingeladen. Er wird bald kommen.“

-    Als letztes kommt die Prinzessin und sagt: „Oh, du hast heute Geburtstag! Das habe ich nicht gewusst. Ich habe leider kein Geschenk mitgebracht.“ Sie frägt einzeln nach: „Was hat dir ... geschenkt?“, anschließend kommentiert sie: „Der Räuber hat eine tolle Idee gehabt“, „Die Oma hat aber viel Geld ausgegeben“, ...

-    Effekt: Imitieren und Übernehmen der Perfektform: Nachdem die dritte Puppe sich ohne ihn zu beschenken an den Tisch setzen wollte, fragt Kasperl nach: „Hast du mir etwas mitgebracht?“; präsentiert der Prinzessin seine Geschenke mit den Worten „... hat mir das geschenkt.“; erkundigt sich bei der Prinzessin: „Hast du auch noch jemanden eingeladen?“

 

Kniffel- Spiel

-    Relativ natürliches Kommentieren des Spiels sowohl von seiten des Kindes als auch der Therapeutin möglich: „Ich habe drei Vierer gewürfelt.“, „Dann hast du einen Viererpasch gewürfelt.“, „Ich habe Zweier gesammelt“, „Ich habe sie als Zweierpasch aufgeschrieben“, „Du hast einen Kniffel geschmissen!“, „Ich habe zwei Sechser behalten“, „Den Rest habe ich zurück getan“

-    Die Perfektform kann auch bei der Hilfe mit den Spielregeln immer wieder eingeschleust werden: „Was hast du gewürfelt?“, „Dann hast du einen Sechserpasch gewürfelt“ etc.

 

Lügengeschichte

-    Bericht über gemeinsame Erlebnisse (im Perfekt) auch Kassette sprechen, wobei einige Unwahrheiten eingebaut werden

-    Die meisten Kinder werden daraufhin empört die verfälschten Aussagen berichtigen und oft die davor verwendete Perfektform benutzen: „Kerstin hat Birnen gekauft.“ – „Neiiin!! Ich hab Salat gekauft!“

 

Walky-Talkies

-    2 Teams, die sich gegenseitig Anweisungen über die Walky-Talkies geben (z.B. wohin gehen, was machen)

-    schafft günstige Situation zur gehäuften spontanen Verwendung des Perfekts: durch fehlenden Sichtkontakt zwingend notwendig, regelmäßig im Perfekt über die Ausführung der Anweisungen zu berichten: „Ich habe ... gemacht“

 

Anlegen eines Kassettentagebuches

-    nach jeder Therapiestunde wird ein kurzer Bericht vom Kind auf Kassette gesprochen
--> Kind berichtet über vergangene Ereignisse: Perfekt als natürliche Erzählform

-    Formulierung der Beiträge ist spontan und unreglementiert, so dass sie einen Einblick darüber gewährleisten, wie sich die Zielform in der Spontansprache durchsetzt

-    Die Einträge bilden darüber hinaus ein verbindendes Element zur letzten Therapiestunde, so dass gedanklich sowie sprachlich leichter an die letzte Stunde angeknüpft werden kann

 

Spontane Situationen nutzen

-    Perfekt als die Erzählform der Umgangssprache --> wenig Vorstrukturierung zur Vermittlung der Zielform nötig

-    Jeder natürliche Erzählanlass kann zu Modellierungszwecken „ausgeschlachtet“ werden (auch bei freien Handpuppenspielen etc.)

-    Formal-sprachlichen Lehr-Lern-Prozesse dürfen nicht die normale Kommunikation einschränken

 

Was muss bei entwicklungsproximaler Sprachtherapie beachtet werden?

Frequenz

Generell: insbesondere dann, wenn das Kind schon in gewissem Maße über die Zielstruktur verfügt, empfiehlt sich ein kurzrhythmisches, funktionales Hin- und Herwechseln der Zielstruktur mit möglichst hoher Frequenz und Rekurrenz --> spezifizierter Input für rezeptive Verarbeitung und zugleich Gelegenheit, die Zielform expressiv in den Griff zu bekommen (Berichtigungen, Antwort auf weiterführende Fragen und Kommentare der Therapeutin), wobei die Verwendung der Zielform gezielt durch dialogisches Zuspiel evoziert wurde

 

Aufmerksamkeitsfokus

-    Bemühen um eine erhöhte Frequenz darf auf keinen Fall zu Lasten der Prägnanz und Relevanz der Modelläußerungen gehen --> permanentes Einsprechen auf das Kind ist unbedingt zu vermeiden, da es sonst leicht zu einer Überstimulation kommen kann und die Therapeutensprache vom Kind zu einem akustischen Hintergrundereignis abqualifiziert werden kann

-    Die Aufmerksamkeit des Kindes muss deshalb durch situationale, aktionale oder verbale Elemente gebunden werden, Zielstruktur sollte nur platziert werden, wenn Aufmerksamkeit gewährleistet ist

 

Flexibles Modellieren

-    wichtig, dass die Techniken des Modellierens variabel und ungezwungen benutzt werden, um die Aufmerksamkeit des Kindes nicht durch den mechanischen Gebrauch einer oder weniger Techniken zu verspielen

-    Wahrnehmung nicht nur auf normabweichende Äußerungen ausgerichtet, sondern auch auf korrekte Produktionen mit funktionaler Bekräftigung reagieren

 

Syntaktische Prinzipien

-    relevante Lerneinheiten sind unabhängig von bestimmten Satzrahmen, dadurch ist Therapeutin relativ frei in den Konstruktionen ihrer Äußerungen und kann sie ungezwungen an den Interaktionskontext anpassen

-    dadurch werden sprachliche Kontraste geschaffen, aus denen sich die entscheidenden Merkmale der Zielform abheben können

 

Literatur

Die entwicklungsproximale Sprachtherapie wurde 1983 von F.M. Dannenbauer entwickelt; detaillierte Ausführungen von Theorie und Praxis finden sich in Haffner, Ute: „Gut reden kann ich“ – Das entwicklungsproximale Konzept in der Praxis – Eine Falldarstellung. Dortmund (Verlag Modernes Lernen). 1995