Demenzbedingte Sprachstörung

Demenz: Definition, Prävalenz und Symptome

Der Begriff der Demenz beschreibt einen hirnorganisch bedingten, pathologischen Abbau kognitiver Leistungen (vgl. Mielke u. Kessler 1994 zit. n. Hartje u. Poeck, 2002, S.423). Die Weltgesundheitsorganisation (ICD  -10 psychischer Störungen) definiert die Demenz weiter als ein Syndrom in Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Erkrankung des Gehirns  (Dilling und Freyberger, 2006, S.25).  Nach der DSM-IV-TR   (American Psychiatric Association (APA), 2000) sind bedeutende Merkmale einer Demenz die Entwicklung multipler kognitiver Defizite, die eine Gedächtnisstörung beinhalten (S.147). Eine der folgenden kognitiven Störungen muss ebenfalls vorhanden sein: Aphasie*, Apraxie, Agnosie oder eine Beeinträchtigung exekutiver Funktionen (vgl. Hartje et al., 2002, S.423). Der Schweregrad der kognitiven Defizite muss so hoch sein, dass berufliche oder soziale Leistungsniveaus beeinträchtigt sind (vgl. ebd.). Zudem muss eine Verschlechterung gegenüber den früheren, höheren Leistungsniveaus bestehen. Eine Bewusstseinstrübung besteht nicht (vgl. Poeck u. Hacke, 2001, S.177). Es wird eine Mindestdauer von sechs Monaten gefordert, um Verwechslungen mit reversiblen Zuständen, die zunächst die gleichen Beschwerden aufweisen, zu vermeiden (Dilling et al., 2006, S.28).
Beeinträchtigungen des Gedächtnisses sind für die Diagnose einer Demenz nötig und stellen ihr prominentestes Symptom dar (APA, 2000, S.148). Die kognitiven Störungen, die vorrangig das Gedächtnis (v. a. das Neugedächtnis) betreffen, wirken sich auf das Denken, die Urteilsfähigkeit, die Intelligenz und Orientierung aus (vgl. Pschyrembel, 2001). Unter Umständen können psychotische Symptome wie z.B. Halluzinationen oder Wahnideen beobachtet werden.
Die folgenden Formen bieten eine erste Unterteilung: Alzheimer-Krankheit (rel. Häufigkeit 50%), zerebrovaskuläre Erkrankungen (17%) und Mischformen (16%) sowie im Rahmen anderer Erkrankungen (Pick-Krankheit, Chorea Huntington, Parkinson-Syndrom, HIV-Erkrankung, u.a.) (vgl. Pschyrembel, 2001). Hartje und Poeck schlagen eine weitere Differenzierung vor (2002, S.423), in der zwischen degenerativen Demenzen (Alzheimer-Krankheit, Lewy-Körper-Krankheit, frontotemporale Demenz, kortikobasale Degeneration, Demenz bei Morbus Parkinson und Chorea Huntington) und vaskulärer Demenz (auch Multiinfarkt-Demenz) unterschieden wird (vgl. ebd. 424).  Eine weitere Form ist die sekundäre Demenz wie sie infolge einer Infektionskrankheit (z.B. AIDS, Kreutzfeldt-Jakob-Krankheit) auftritt (vgl. ebd.). Außerdem fassen die Autoren kortikale und subkortikale Demenz zusammen. Auch wenn Krankheitsbilder wie z.B. Morbus Parkinson, Chorea Huntington und Morbus Wilson pathogenetisch und psychopathologisch unterschiedlich sind, treten andererseits die gleichen sub- und kortikalen  pathologisch-anatomischen Veränderungen auf (vgl. ebd.).  Als Differenzialdiagnosen gibt der Pschyrembel u.a. Depression (v.a. als sog. Pseudodemenz), Psychose und  geistige Behinderung an.
Im Folgenden werden einige Formen der Demenz beschrieben, wobei vorrangig die Epidemiologie, Symptomatik und Verlauf erläutert werden . Die Auswahl der Demenzen wurde nach der Relevanz für die sprachtherapeutische Arbeit getroffen.

*Aphasie tritt im Zusammenhang mit Demenzen nur in den DSM-IV Kriterien auf. Begriffe wie "demenzbedingte Sprachstörungen" (Schultze-Jena u. Becker, 2005) oder "Sprachabbau bei Demenz" (Steiner, 2001) sind aus sprachtherapeutischer Perspektive passender.

Alzheimerdemenz

Die im angloamerikanischen Raum als „Dementia of the Alzheimer’s Type“ (im Folgenden DAT) bezeichnete degenerative Hirnkrankheit ist die häufigste Erkrankung, die zu einer Demenz führt (vgl. Hartje et al., 2002, S. 424). Beginn der Erkrankung ist ab dem 70. Lebensjahr (vgl. ebd.). Die APA schlagen zwei Subtypen vor: mit frühem Beginn (Alter 65 Jahre oder darunter) und mit spätem  Beginn (nach einem Alter von 65 Jahren) (2000, S.155). Außerdem wird in „with and without behavioural disturbance“ differenziert (ebd.). Es besteht aktuell die Diskussion zweier Modelle zur Unterteilung aufgrund der Unterschiedlichkeit in der Symptomatik (Hartje et al., 2002, S.425). Das Stadienmodell bezieht den relativ homogenen Funktionsabbau, eine zeitlich progrediente Verschlechterung sowie ggf. das Neuauftreten qualitativ andersartiger Defizite ein. Eine Manifestation unterschiedlicher Symptomatik von Beginn an wird mit Hilfe des Subgruppenmodells beschrieben. (vgl. ebd.)
Erste Symptome, die allerdings noch keine Diagnose zulassen, sind u.a. uncharakteristischer Kopfschmerz oder allgemeine Leistungsschwächen. Im weiteren Verlauf treten dann charakteristische neuropsychologische Ausfälle wie Vergesslichkeit, Verlieren des Überblicks über Situationen und Aufgaben, Schwierigkeiten beim Rechnen, Schreiben und Lesen auf (Poeck et al., 2001, S.541). Die Patienten sind meist zeitlich und örtlich, ggf. auch persönlich nicht vollständig orientiert (ebd.). Das Leitsymptom ist jedoch eine schwere Merkfähigkeit (Hartje et al., 2002, S.425). Auffällig ist, dass die Persönlichkeit sowie die äußere Haltung weitgehend unbeeinträchtigt sind (vgl. Poeck et al., 2001, S.541). Nicht kognitive Veränderungen wie Antriebsmangel, psychomotorische Unruhe, Schlafstörungen und Depressivität werden ebenfalls beschrieben (vgl. ebd.). In der neurologischen Diagnostik findet man Reflexdifferenzen und Zeichen ähnlich denen von Morbus Parkinson (vgl. ebd.). Bei längeren Untersuchungen sind Leistungsschwankungen zu beobachten, ermüden die Patienten zunehmend und können in eine ratlos-traurige Verstimmung fallen (vgl. ebd.). „Der Verlauf ist unaufhaltsam progredient“ (ebd.). Sprachstörungen treten laut Hodges u. Patterson (1995) bei allen Patienten ab dem frühesten Stadium des degenerativen Prozesses auf (zit. n. Luzzatti, 1999, S.813) . Wortfindungsstörungen sowie das Perseverieren von Gedanken und Wörtern sind zu beobachten. Es kommt zu einem fortschreitenden „Sprachzerfall“. Stereotypien, Echolalien, Neologismen und schließlich Logoklonien sowie Beeinträchtigungen des Sprachverständnisses werden beschrieben. Auch die Motorik ist von diesen gleichförmigen, automatenhaften Iterationen betroffen. (vgl. Poeck et al., 2001, S.541)
Die Therapie erfolgt zurzeit häufig durch eine Behandlung mit reversiblen Cholinesterasehemmern, da von einem Mangel an Azetylcholin ausgegangen wird (vgl. ebd., 542). Poeck und Hacke postulieren ein Training von Alltagsfunktionen in der familiären Umgebung vor dem sog. "Gehirnjogging", da bestenfalls Items, nicht aber Strategien erlernt werden (vgl. ebd.).

Fronto-temporale Demenz

Hartje und Poeck (2001) unterteilen die fronto-temporale Demenz (FTD) in drei Varianten, Morbus Pick, semantische Demenz (SD) sowie primär progressive Aphasie. Eine Abgrenzung zur DAT ist aufgrund des Fehlens eindeutiger biologischer und apparativer Marker teils schwierig (vgl. Danek und Wekerle, 2001, S.117). Die Untersucher beobachten jedoch  sehr differenziert, um „Patienten nicht einfach als atypische Alzheimer-Krankheit“ (Poeck et al., 2001, S.546) zu diagnostizieren. Die folgende Beschreibung soll nicht das Kriterium der Vollständigkeit erfüllen, sondern einen Einblick in die verschiedenen Formen geben und grob Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit dem Fokus der sprachtherapeutischen Arbeit herausarbeiten.

Pick-Atrophie

Die nach dem Neurologen und Psychiater Arnold Pick (1851-1924) benannte seltene Demenzform beginnt meist zwischen dem 50.  und 60. Lebensjahr und hat eine mittlere Erkrankungsdauer von sieben Jahren (vgl. Hartje et al., 2002, S. 427). Die Ätiologie ist unbekannt. Charakteristische Beobachtungen sind eine Schwellung der Nervenzellen (Pick-Zellen) und argyrophile Einschlüsse (Pick-Körper) (vgl. Pschyrembel, 2001). Es werden u.a. Atrophien im Bereich des Frontalhirns und der vorderen Anteile des Temporallappens gefunden (vgl. ebd.). Zunächst  tritt ein allgemeines Nachlassen der Leistungsfähigkeit ein. Es schließen sich Veränderungen der Persönlichkeit an (vgl. Poeck et al., 2001, S.545). Im weiteren Verlauf kommen die Symptome progrediente Demenz und evtl. Sprachstörungen und Aphasie hinzu (vgl. Pschyrembel, 2001). Pathologische Hand- und Mundgreifreflexe sind möglich; im Endstadium ist ein akinetisches Parkinson-Syndrom mit schwerer Demenz zu beobachten (vgl. Poeck et al., 2001, S.545).

Semantische Demenz

Ursache der Semantischen Demenz (SD) ist u.a. eine Verminderung der Durchblutung, die sich in bildgebenden Verfahren in Form einer linksseitigen, infero-temporalen Atrophie äußert (vgl. Hartje et al., 2002, S.427). Das Leitsymptom ist der fortschreitende Verlust semantischer Information, wobei zunächst nur lautsprachliche Modalitäten betroffen sind (vgl. ebd.). Über einen langen Zeitraum sind das episodische Gedächtnis,  das Sozialverhalten sowie die räumliche Orientierung nicht betroffen (vgl. Poeck et al., 2001, S.546). Im späteren Verlauf können Patienten mit SD auch visuell oder taktil wahrgenommene Objekte nicht mehr erkennen; die Schriftsprache wird in Mitleidenschaft gezogen (vgl. ebd.). Die Sprache kann als „flüssig“ , aber inhaltsleer beschrieben werden; Artikulation und Syntax sind unauffällig (vgl. ebd.). Das Benennen und Definieren von Objekten und Tätigkeiten ist den Patienten nicht möglich oder sie produzieren semantische Paraphasien (s. auch ‎3.1 ), wobei die Möglichkeit besteht, dass einzelne semantische Felder (z.B. Tiernamen) stärker betroffen sind (vgl. Danek et al., 2001, S.124). Eine Oberflächendyslexie/-dysgraphie kann nicht ausgeschlossen werden (vgl. ebd., S.125). Laut Danek et al. sind das Zuordnen von Bildern sowie das Nachsprechen einzelner Wörter intakt (vgl., ebd. 125). Im Endstadium der Krankheit ist ein Mutismus ggf. mit Zeichen des Klüver-Bucy-Syndroms zu beobachten (vgl. Hartje et al., 2002, S.427).

Primär progressive Aphasie

Die „primary progressive aphasia“ (Mesulam, 2001) oder auch „progressive non-fluent aphasia" (Neary et al., 1998) bzw. „primär progrediente Aphasie“ (Schultze-Jena u. Becker, 2005, S.14) ist durch eine langsam fortschreitende Aphasie gekennzeichnet. Die Sprachproduktion wird hier als „nichtflüssig“ beschrieben (vgl. Poeck et al., 2001, S.546). Die Patienten produzieren viele phonematische Paraphasien und eine agrammatische Syntax (vgl. ebd.). Laut Danek und Wekerle (2001) treten ebenfalls Wortfindungs- und Benennstörungen auf; Sprech- und Sprachstörungen z.B. in Form einer Sprechapraxie sind möglich, das Nachsprechen kann gestört sein (vgl. S.124). Das Sozialverhalten, räumliche Orientierung, episodisches Gedächtnis und Problemlösen sind wie bei der SD lange Zeit intakt; im Verlauf lassen andere kognitive Leistungen allerdings nach (vgl. Poeck et al., 2001, S.546). Nach 2-8 Jahren liegt ein Mutismus ohne erkennbares Sprachverständnis vor (vgl. Hartje et al., 2001, S.428).

Varianten der primär progressiven Aphasie

Zuordnung, Differenzierung und Unterteilung von SD und PPA sind nicht eindeutig. Mögliche Klassifizierungen und Probleme der Begrifflichkeit werden geschildert. In einem aktuellen Überblick unterscheiden Amici et al. (2006) folgende Varianten der primär progressiven Aphasie: 1) progressive nonfluent aphasia (PNFA), 2) semantic dementia, 3) logopenic progressive aphasia (LPA). Amici et al. führen zusätzlich die LPA auf. Zumindest die sprachlichen Merkmale werden hier kurz dargestellt, auch wenn diese für eine eindeutige Differenzierung nicht ausreichend sind, da Überschneidungen mit anderen PPA Varianten möglich sind. In der Spontansprache von Patienten mit LPA sind Wortfindungsstörungen und phonematische Paraphasien zu beobachten. Das Nachsprechen und Benennen ist beeinträchtigt. Das Satzverständnis ist auch für einfache Sätze gestört. Das Lesen ist nur bei einfachen Wörtern möglich. Akalkulie und Apraxie sind möglich. (ebd. S. 80)
Knibb und Hodges (2005) befassten sich ebenfalls mit der Kategorisierung von SD und PPA. Anhand der Daten von 50 Patienten, die seit 1990 in Cambridge untersucht wurden, begründen die Autoren, dass der Begriff „PPA“ weder nützlich noch klinisch von Bedeutung ist (vgl. Knibb et al., 2005, S.12). Sie schlagen die Verwendung der Begriffe „SD“ und „PNFA“ zur Unterscheidung der Syndrome vor, da davon ausgegangen wird, dass eine „flüssige“ PPA eigentlich eine SD ist (vgl. ebd.). In den bisher erschienenen sprachtherapeutischen Arbeiten im deutschsprachigen Raum erfolgt bei primär progressiven Aphasien weiterhin eine Differenzierung in flüssige vs. nichtflüssige PPA (vgl. Lange et al. 2006). Eine einheitliche Klassifikation und Begrifflichkeit wird von einigen Autoren angestrebt (vgl. Knibb et al., 2005).

Post-stroke Demenz

Demenzkrankheiten sind nicht nur mit dem Lebensalter, sondern auch mit bestimmten vaskulären Risikofaktoren assoziiert (vgl. Poeck et al., 2001, S.539). Durch Infarkte im Versorgungsgebiet großer hinzuführender Arterien können so genannte vaskuläre Demenzen hervorgerufen werden (vgl. Haberl u. Schreiber, 2001, S.65). Hénon et al. (2001) wiesen mittels einer Studie mit 169 Patienten mit Schlaganfall im Rahmen einer 3-jährige Verlaufsbeobachtung nach, dass das Risiko einer PSD bei 28,5% liegt (S.1216). Bei 1/3 der Patienten mit PSD wurde eine DAT, bei 2/3 eine Vaskuläre Demenz diagnostiziert (ebd., S.1219).
Die beschriebenen Demenzen zeigen eine Vielzahl an Überschneidungen mit den Symptomen einer  Aphasie nach einem Schlaganfall. Im Besonderen die ähnlichen sprachlichen Fähigkeiten erfordern eine professionelle sprachtherapeutische Diagnostik.


Literatur
(Die Literaturliste umfasst neben den zitierten Arbeiten weitere Untersuchungen, die sich speziell auf sprachliche Fähigkeiten bei Demenzen beziehen.)

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