Weichensteller in der Sprachheilpädagogik

Manfred Grohnfeldt zum Gedächtnis

Manfred Grohnfeldt ist tot. Man mag es gar nicht glauben, denn es passt nicht ins disziplinäre Selbstkonzept. Denn war Manfred Grohnfeldt – DER GROHNFELDT – nicht schon immer da und wird es immer sein? War nicht DER GROHNFELDT während der eigenen Studienzeit in den endachtziger und neunziger Jahren bereits ein arrivierter Professor, der zusammen mit anderen Granden des Faches wie Lothar Werner, Gerhard Homburg und Jürgen Teumer immerfort an nichts Geringerem als am Behinderungsbegriff, der Standortbestimmung des Faches und am flexiblen System von Grund- und Sonderschule arbeitete? Der dann auch weiter die Professionalisierung bundesweit tausender Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen mit zuerst sehr dicken und vielzahligen, später komprimierteren Herausgeberreihen und -bänden begleitete, wenn nicht gar prägte? Der mit der längsten, professoralen Dienstzeit geradezu prädestiniert war, uns jeweils Gegenwärtigen die historischen Entwicklungslinien des Faches aufzuzeigen, wo von ihm für möglich empfunden mit den Ergebnissen von Umfragen und Erhebungen deren Erkennung zu verstärken und wo für nötig empfunden auch zum Mittel bohrender Fragen zu greifen – so erst kürzlich in Praxis Sprache 3/2023. DER Manfred Grohnfeldt, der als langjähriger Redakteur der Verbandszeitschrift die Entwicklung der Sprachheilarbeit inhaltlich beständig und äußerlich in ein neues Format geführt hat und dessen „Auf ein Wort“ auch nach seiner Emeritierung die Fachleserinnen und -leser begleitet hat – sogar bis hin zu diesem aktuellen Heft!

Mit dem Tod von Manfred Grohnfeldt geht in der Sprachheilpädagogik eine Ära zu Ende – so werden es sehr viele mit uns empfinden. Und die oben angedeuteten Rekorde in der Berufsbiographie lassen auch kaum einen anderen Schluss zu. Zumal der fachliche Aufstieg des jungen, an der PH Reutlingen lehrenden Professors aus Bremen mit dem Aufblühen der Sonder- resp. Behindertenpädagogik der 1970er Jahre zusammenfällt und damit sein kontinuierliches Wirken über 50 Jahre hinweg letztlich auch die Sprachheilpädagogik von heute in besonderer Weise mitgeprägt hat.

Doch Manfred Grohnfeldt hat uns – nicht zuletzt in seinen einprägsamen Grafiken – gezeigt, wie vieles mit vielem zusammenhängt und dass in dieser einen Ära bei genauerer Betrachtung sich überlappende Abschnitte, komplex verschränkte Dimensionen und dynamische Perspektiven aufscheinen.

Einige davon sollen im Folgenden aus der Sicht derer, die an seiner letzten Wirkungsstätte – der LMU München – in seinem Team tätig waren, in diesem Nachruf lebendig werden – auch auf die Gefahr hin, dass kundige Leserinnen und Leser Aspekte vermissen. Auch können wesentliche Protagonisten (Stephan Baumgartner und Frieder Dannenbauer) sich nicht mehr einbringen. Aber im Fall von Manfred Grohnfeldt wird wohl zwangsläufig jeder Nachruf von der Unmöglichkeit geprägt sein, sein Schaffen und Wirken vollständig zu erfassen.

 

Manfred Grohnfeldt als Publizist

Als Publizist ist Manfred Grohnfeldt in seiner Schaffenskraft unübertroffen. Mit über 300 Veröffentlichungen in Form von Herausgeberwerken, Studienreihen, Artikeln und Rezensionen zeigt er eine unermüdliche Passion, auch bis an sein Lebensende. Eine besondere Rolle hatte er als Herausgeber. Unermüdlich und hartnäckig gewann er Autoren, die er stets für neue Projekte begeisterte. Seine Schriften zu den großen Themen der Sprachheilpädagogik wie Geschichte, Wandel, Standortbestimmung, Selbstverständnis oder Menschenbilder bzw. Lebensverläufe waren und sind für viele Studierende, Lehrende und an der Sprachheilpädagogik Interessierte ein langjähriger Begleiter.

 

Manfred Grohnfeldt als Redakteur der Sprachheilarbeit und dgs-Verbandsvertreter

Ende der 1980er Jahre wurde Manfred Grohnfeldt in den Wissenschaftlichen Beirat der dgs berufen, und lenkte von da an zusammen mit Prof. Dr. Gerhard Homburg und Prof. Dr. Jürgen Teumer in historischen Konzept- und Positionspapieren sowie Stellungnahmen z.B. für die Kultusministerkonferenz (KMK) die Geschicke der Sprachheilpädagogik entscheidend mit, u.a. mit Überlegungen zum Übergang von der Sprachheilschule zu sonderpädagogischen Förderzentren. Im Hauptvorstand der dgs war er tragendes Mitglied, legendär waren seine Zusammenfassungen und Strukturierungen, die stets mit den Worten “Ich möchte das bisher Gesagte noch einmal zusammenfassen” begannen. Auch als Redakteur der Sprachheilarbeit war er ein Jahrzehnt aktiv und gestalte dieses Medium der deutschen Sprachheilpädagogik entscheidend mit.  Nach seinem Ausscheiden aus dem Wissenschaftlichen Beirat fungierte er weiterhin als Gutachter und nahm z.B. in der Rubrik “Auf ein Wort” pointiert Stellung zu sprachheilpädagogischen und sprachtherapeutischen Entwicklungen Neben weiteren Tätigkeiten wie Hochschulreferent war er auch der dgs-Biograph: Sein unübertreffbares historisches Wissen, aber auch seine Innensichten führte er in seiner ihm eigenen Art mit äußerster Präzision in der Festschrift zum 75-jährigen Bestehen der dgs zusammen, in der alle Facetten bis ins kleinste recherchiert und aufgezeichnet, aber auch in gesamtgesellschaftliche Kontexte gestellt wurden. Die für ihn typischen mahnenden und zukunftsorientierten Betrachtungen durften natürlich auch hier nicht fehlen!

 

Manfred Grohnfeldt als Hochschullehrer

 Manfred Grohnfeldt studierte Pädagogik der Gehörlosen- und Schwerhörigen-, und Sprachheilpädagogik in Bremen und promovierte 1974 im Bereich Sonderpädagogik, Phonetik/Sprachwissenschaft in Hamburg. Nach einer mehrjährigen Tätigkeit an Schulen, Ambulanzen und Beratungsstellen wurde er mit nur 29 Jahren 1977 zum Professor für Sprachbehindertenpädagogik an die Hochschule in Reutlingen berufen. Nachdem er zwischen 1987 und 2000 als Universitätsprofessor an der Universität zu Köln und Direktor des Seminars für Sprachbehindertenpädagogik in Köln tätig war, wechselte er 2000 nach München an die Ludwig-Maximilians-Universität, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2014 lehrte und wirkte. Dort führte er 2004 in Zusammenarbeit mit Frau Prof. Dr. Elisabeth Leiss (Lehrstuhl für Germanistische Linguistik) den ersten deutschen BA/MA-Studiengang Sprachtherapie ein, welcher seitens der gesetzlichen Krankenkassen mit einer Vollzulassung für die Behandlung sämtlicher Störungsbilder anerkannt und zu einem Vorbild für zahlreiche andere Studiengänge der akademischen Sprachtherapie wurde. Als Lehrstuhlinhaber war ihm die konstruktive Zusammenarbeit im Team ein wichtiges Anliegen. Ein wertschätzender Umgang untereinander und das Vertrauen in das wissenschaftliche Engagement der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gehörten ebenso zu seinem Führungsstil wie das Gewähren von Freiräumen für individuelle fachliche Schwerpunktsetzungen und die Selbstverständlichkeit familienfreundlicher Arbeitsbedingungen.

Auch im Rahmen der Ständigen Konferenz der Dozentinnen und Dozenten für Sprachbehindertenpädagogik, deren langjähriger Vorsitzender er war und deren Tagungen er auch noch viele Jahre nach seiner Emeritierung besuchte, versuchte er auf die Entwicklung seines Fachs Einfluss zu nehmen.

 

Manfred Grohnfeldt als Historiker der Sprachheilpädagogik

Manfred Grohnfeldt kann mit Fug und Recht als der Chronist der Sprachheilpädagogik in der zweiten Hälfte ihres reichlich hundertjährigen Bestehens bezeichnet werden. Er erkannte in der großen gesellschaftlichen Zäsur der Nazizeit und dem anschließenden Neubeginn, aber vor allem auch in den Debatten und Entscheidungen zur Eigenständigkeit der Sprachheilpädagogik (1968), zur Ausdifferenzierung des sonderpädagogischen Systems in den 1970er Jahren in West- und Ostdeutschland, in den Umwälzungen der friedlichen Revolution von 1989 und in der Begründung der akademischen Sprachtherapie aus der Sprachheilpädagogik (1999) heraus wesentliche „Weichenstellungen in der Sprachheilpädagogik“ - so der Titel seines Buches zur 75-Jahr-Feier des Fachverbandes vor etwa 20 Jahren.

 

Nun trauern wir um Manfred Grohnfeldt, der für uns mit seinem Wirken nicht nur Chronist, sondern viel mehr einer der wesentlichen Weichensteller der Sprachheilpädagogik in Deutschland war. Unser besonderes Mitgefühl gilt seinen drei Kindern. Wir gedenken Manfred Grohnfeldt mit Dankbarkeit, Respekt und Anerkennung.

 

Christian Glück, Daniela Kiening, Andreas Mayer, Karin Reber, Wilma Schönauer-Schneider und im Namen der dgs